2. Wiederholung der „Messner-Mayerl“ in der Langkofel-Nordwand
DaO Darshano L. Rieser, Hannes Schmalzl, Reinhard Schiestl am 22.8.1981
(Text: Darshano)
Nur noch eine steile Eisrinne trennt uns von der Ausstiegsverschneidung. Ein etwa zwei Meter breiter Eispanzer, mit Reibungskletterpatschen unmöglich kletterbar. Seilfrei stehen wir nebeneinander auf einer kleinen Felsnase. Ich schlage vor zu springen. Reinhard erklärt mich für verrückt. Aber ich hatte immer schon ein gutes Gefühl für gewagte Sprünge, und ehe sich’s Reinhard versieht, stoße ich mich ab und lande nach einem kräftigen Satz auf einem tellergroßen Plateau der gegenüberliegenden, vereisten Rissverschneidung. Eine Eisscholle zerbirst krachend unter meinen Fersen, meine Hände verklemmen sich tief im Riss und ein freches Grinsen fliegt von meinen Lippen zurück zu den Freunden. Reinhard ist entsetzt und gibt viel „Wenn und Aber“ zu bedenken. Als aber auch Hannes ohne zu zögern den fliegenden Quergang hinter sich bringt, springt Reinhard ebenfalls. Trotz Wenn und Aber …
Kurz darauf stehen wir am Gipfel. Fünf Stunden haben wir für die 1.100 m hohe, vereiste Langkofel-Nordwand gebraucht. Wir sind zufrieden. Eigentlich wollten wir ja in eine andere Wand, aber als Reinhard’s Auto um 12 Uhr nachts beim Erreichen des Sella-Passes sämtliche Warnlichter am Armaturenbrett erblinken ließ, disponierten wir kurzerhand um und blieben an Ort und Stelle. Nach durchkauerter Nacht auf den Sitzen des Peugeots erwachten wir um 7.30 Uhr morgens. Hannes (Schmalzl), der beim Bundesheer im Service tätig gewesen war, bewies sein Talent als Butler und strich uns zum Frühstück ein Vollkornbrot nach dem anderen. Da wir auf eine große Tour eingestellt waren, interessierte uns an den drei Sellatürmen und der Ciavazzes-Südwand heute nichts, zumal wir sowieso beinahe alle Routen dort kannten. Allein das Langkofel-Massiv reizte uns enorm. Die Messner-Mayerl Nordwand. Eine einzige Wiederholung soll es erst geben, und 10-15 Stunden Kletterzeit sollen die Erst- und Zweitbegeher benötigt haben.
Als wir das Auto verließen, trat ein Irländer heran und fragte, ob er unser vierter Mann sein dürfe, weil sein Partner sich heute nicht wohl fühle. Wir hätten McGregor wohl angeboten, mit uns zu kommen, aber als er unser Ziel vernahm, lehnte er dankend ab. Um 10 Uhr stiegen wir ein. Gleich in den ersten 100 Metern die wir kletterten, fanden wir abgeschlagene Seile, Rückzugsschlingen und sonstige Zeichen misslungener Wiederholungsversuche. Seilfrei stiegen wir in der Einstiegsschlucht bis zum ersten überhängenden Abschnitt, von welchem Riesen-Eiszapfen drohend zu uns Winzlingen herunterblitzten. Für zwei Seillängen verbanden wir uns zu einer Seilschaft und fanden links in einer brüchigen Rissverschneidung, in der man das Eis umgehen konnte, einen alten Haken von Reinhold Messner. Kurzes Abklettern in überhängendem Fels brachte uns in die ursprüngliche Kaminreihe zurück – wir nahmen die Seile wieder auf und banden sie uns wieder fachgerecht auf den Rücken. Ohne Sicherung kletterten wir nun Hunderte von Metern steilsten Fels empor, jeder allein auf sich gestellt, einzig vertrauend auf seine Erfahrung und sein Können. Ein befreiendes Gefühl. Was uns zu schaffen machte, waren weniger Steilheit und Schwierigkeit der einzelnen Kletterstellen als mehr die Nässe, Kälte und der oft glasierte, eisgepanzerte Fels. Hier hieß es vorsichtig klettern, jegliches Sturzrisiko vermeiden. Ein reizendes Spiel.
In diesem Stil kletterten wir bis unter jenen überhängenden Riss, der vor blankem Eis nur so glänzte. Links und rechts des Überhangs, den es zu überklettern galt, hingen Eisschollen herunter. Ungesichert, wie ich war, versuchte ich ihn hochzuspreizen.
Es war zu gefährlich. Hannes und Reinhard waren auch dafür, dass wir uns wenigstens für die ärgsten zwanzig Meter anseilen.
Mit den Handinnenflächen versuchte ich das Eis von den unbedingt notwendigen Griffen und Tritten wegzutauen. Unendlich vorsichtig stieg ich höher, vergeblich versuchte ich eine Zwischensicherung unterzubringen. Als ich oben stand, spürte ich meine Finger nicht mehr. Doch danach gab es nur mehr rhythmisches Steigen ohne behinderndes Seil und den spektakulären Sprung trotz Reinhards „Wenn und Aber“.
Am Gipfel bestaunen Hannes und ich jetzt die schönen Cumulus-Wölkchen, die uns, wären wir mit den Drachen hier, sichere Aufwindbärte bezeichnen würden. In Gedanken stehe ich schon dort auf dem Felssporn am Rande des Abgrundes, das Trapez auf den Schultern, elf Meter Flügelspannweite über mir, – und ich spüre wie der Wind in das gespannte Segel fährt, wie ich abhebe und fliege, wie ich kreise mit den Dohlen, wie ich dahinschieße durch die Lüfte, stahlblauen Himmeln entgegen. Der Gipfel des Langkofel-Massivs versinkt unter mir wie einst Atlantis im Meer, die Wolken tanzen im Reigen und neigen sich zum Gruß. Die Sonne spiegelt sich am verchromten Gehäuse des Variometers, glitzert durch die Schleier der Wolkenränder und wirft mir wärmende Strahlen ins Gesicht. Der Fahrtwind zupft lustig an den Haarbüscheln, die unter dem Helm hervorlugen, und ich genieße diesen Fahrstuhl, diese Thermik – sie läßt mich steigen und steigen in gigantische Höhen …
Doch wir müssen an den Abstieg denken, und wehmütig lasse ich den Traum vom Fliegen fahren. Es wäre zu schön gewesen, die Knie zu schonen und per Flug-Drachen abzuheben, einen kleinen Dolomiten-Rundflug zu machen und dann ganz mühelos dem Tale zuzuschweben.
Der Normalweg hinunter ist lang und durstig. Nach zwei Stunden erreichen wir die Toni-Demez-Hütte. Dort essen wir ziemlich teure Polenta mit Pilzen und der Wirtssohn erzählt uns von seinem rüstigen Vater, der mit 79 Jahren noch immer Bergführer ist und Klettertouren mit Gästen unternimmt. Auch erfahren wir, dass man Paul Grohmann, der als erster den Langkofel bestiegen hat, deswegen von der Kirche ausgeschlossen und als Gottesfrevler und Selbstmörder abstempelt hat. Das war vor vielen vielen Jahren in St. Christina. Dabei kann es sich aber nur um eine Legende handeln. Wie sollte der Wiener Paul Grohmann in St. Christina von der Kirche ausgeschlossen werden! Grohmann gastierte im Grödnertal immer in den besten Wirtschaften und schloß vor seinen Unternehmungen gelegentlich Wetten mit den Einheimischen ab; hinterher hat es oft deftige Feste gegeben – bestimmt auch nach der Langkofel-Erstbesteigung, die Paul Grohmann 1869 mit den Führern Franz Innerkofler und Peter Salcher geglückt ist.
Aber Exkommunikation hin oder her, wir sind heute größtenteils seilfrei durch die Langkofel-Nordwand geklettert, so ändern sich die Zeiten.
Lange Schotterreißen nehmen uns jetzt auf und lassen uns in großen Sprüngen wieder unser Auto erreichen. Hannes, als Brotstreicher vom Dienst, macht sich wiederum an die Arbeit und überlegt, dass der Ire, der eigentlich in der Früh mit uns gehen wollte, den vereisten Verhältnissen vielleicht doch nicht ganz gewachsen gewesen wäre und dass wir unter Umständen jetzt seinem kranken Partner berichten müssten:
„Oh, we are very sorry, but just as we were free soloing a very
difficult and icy traverse, McGregor didn’t succeed and we saw him …
(Hannes singt den Paul-Simon-Song und wir fallen in den Refrain ein:)
SLIP-SLIDING AWAY
SLIP-SLIDING AWAY
You know the nearer the destination the more you’re SLIP-SLIDING AWAY.
’s (Berg-)Leben schreibt noch immer die besten Geschichten. Lässig – wenn’s einem beim Zuhören schon graust:).