MORD AN DER WAHRHEIT
Beginnen wir beim Urknall:
Als es vor einigen Jahrzehnten modern wurde, neben Mauerhaken auch Trittleitern mit in die Wand zu nehmen, weil Hakenrasseln zum Nonplusultra im Alpinismus avancierten, waren Wiederholungen von Führen nur mehr interessant, wenn sie mindestens ein bis zwei Passagen künstlicher Kletterei zu bieten hatten, sodass ins Tourenbuch neben die obligatorische „VI+“ ein zünftiges „A2“ oder gar „A3“ gesetzt werden konnte. Noch war der Irrweg der Entwicklung schwer zu erkennen, besonders für die Involvierten, die im Rausch der Bezwingung glauben mussten, dass ihnen „der Erfolg Recht gebe“. Spätestens aber, als die Erstbegeher der damaligen Zeit damit begannen, Expansions-Bohrhaken zu Erreichung ihrer Ziele einzusetzen, hätte die Sackgasse erkannt werden müssen. Stattdessen wurden nun auch Wandpartien durchstiegen, die nicht mehr von Rissen gekennzeichnet waren.
Platten, Überhänge, ja sogar Riesen-Dächer, die zum Freiklettern für die damalige Generation viel zu schwierig waren, wurden „erschlossert“. Erst als Reinhold auf den Plan trat und die artifizielle Erschließung vehement und öffentlich anprangerte, wurde der MORD AM UNMÖGLICHEN zum geflügelten Wort.
Für meine jahrelangen Kletterpartner bzw. Freunde Reinhard Schiestl, Heinz Mariacher, Luisa Jovane, später Wolfgang Müller, Paul Koller, Ingo Knapp sowie Gerhard Hörhager und jetzt seit langem schon Hanspeter Jesus Schrattenthaler, und mich, die wir erst am Ende dieser Periode zu klettern begannen, waren von den alten Anstiegen nur die typischen Freikletterrouten wirklich interessant. Zwar wiederholten wir auch Klassiker mit hakentechnischen Einzelstellen, eigentlich aber nur, um alpine Erfahrung zu sammeln und neue Begehungszeit-Dimensionen auszuloten. In wenigen Stunden durchstiegen wir 700 – 1.000m hohe Wände, die bis dahin oft nur mit (meist mehreren) Biwaks bewältigt worden waren. Zum Teil kletterten wir sogar im Auf- und Abstieg.
Unsere wirklichen Herausforderungen aber waren niedere Begehungen von früheren Freikletter-Spezialisten wie Vinatzer, Rebitsch, Cozzolino, Messner usw., um uns dann dem eigenen Schöpfer-Drang in Sachen Erstbegehung zuzuwenden. Als junge Klettergeneration konnten wir damals wesentlich dazu beitragen, dass der Eroberungs-Alpinismus einer verspielteren, ästhetischen Form der Neutourengestaltung im Gebirge wich, dass Bezeichnungen wie „Direkte Nordwand“ udgl. einer kreativen Routen-Namensgebung Platz machten (Glasperlenspiel, Niagara, Hatschi Bratschi, Morgenlandfahrt, Mythomania, Odysee, Schwalbenschwanz usw.) und dass durch unsere Freikletter-Philosophie die Trittschlingensteigerei endgültig verpönt wurde.
Währenddessen entwickelte sich parallel dazu die Sportkletterbewegung. Sie löste den Expansions-Bohrhaken durch gedübelte bzw jetzt geklebte Bohrhaken ab und entwarf strikte Regeln, die besagen, dass „Bolts“ nicht zur Fortbewegung, sondern nur zur Sicherung gedacht sind. Die bei uns im alpinen Bereich noch gefragte Nervenstärke der Erstbegeher sowie Großzügigkeit der Wände und Routen wurde in Sportklettergebieten auf reine Kletterschwierigkeiten bei zumeist Ein-Seillängen-Routen reduziert und wir benutzten diese neuen Errungenschaften für unser Training zur Leistungs-Steigerung. Solcherart gerüstet haben wir in den letzten Jahren an die 350 Erstbegehungen im 6., 7., 8. und 9. Schwierigkeitsgrad verwirklicht (unser Meisterstück in der Marmolada-Südwand „Steps across the border / Senkrecht ins Tao“ wirft gar X- aus), wobei wir uns, trotz Verzicht auf Bohrhaken, in Überhänge genauso hineinwagten, wie in Plattenschüsse (tatsächlich sind im Kalk nämlich auch geschlossen wirkende Platten bei näherer Betrachtung zumeist genug strukturiert, dass kleine Stopper und Ähnliches zu Sicherung untergebracht werden können).
Die Welt des Sportkletterns brachte es aber auch mit sich, dass ihre Erschließungstechniken von einigen Erstbegehern ins Gebirge übertragen wurden, – mitunter ohne sich Beschränkungen aufzuerlegen:
Da gibt es nun Kletterer, die seilen sich – in meinen Augen völlig undiskutabel – von oben in alpine Wände hinein, setzen die Bohrhaken aus dem Abseilgurt und geben nach erfolgter Erkletterung von unten der Route einen Namen. Dann gibt es aber auch hervorragende Kletterer wie Beat Kammerlander, Alexander Huber, Stefan Glowacz udgl., die setzen die Bolts im Vorstieg und eröffnen extrem schwierige, oft lange und – durchaus diskutable – Anstiege, für deren Wiedeholung nur Expressschlingen benötigt werden. Diese im Vorstieg eröffneten Routen, welche in Wandpartien realisiert werden, die ohne Bolts ohnehin nie – obwohl, sag niemals nie – möglich sein werden, seien hier ebenso wenig Gegenstand der kritischen Auseinandersetzung, wie das maßvolle Sanieren alter Klassiker, die massenhaft begangen werden und ihren Nimbus daher ohnehin längst eingebüßt haben.
Und dann gibt es noch Kletterer, und jetzt komme ich zum Punkt, die machen Erstbegehungen von unten, mit der üblichen Alpinausrüstung, zusätzlichen Bohrhaken und Trittschlingen, cliffen sich die Wände hoch und tragen dazu bei, dass sich die Geschichte nicht nur wiederholt, sondern noch um ein weiteres Phänomen verkompliziert: Die Frage für Wiederholer: wo hat der Erstbegeher hier etwa geclifft? bis hierhin? bis dorthin? oder auch noch die nächsten zwei Meter? oder gar bis zur Piazschuppe zehn Meter ober mir? – wird zum Ratespiel oder Glaubenskrieg.
Als ich anfangs der Achzigerjahre gegenüber dem damaligen Chefredakteur des „Bergsteiger“-Magazins Toni Hiebeler (der später mit dem Hubschrauber tödlich abstürzte) die Bemerkung machte, dass „wir Tiroler die Erstbegehung des >Fisch< von Igor Koller sehr kritisch betrachten, weil wir bis dahin reine Freikletter-Routen in der Marmolada eröffnet hatten“, veröffentlichte er dieses Statement und Heinz Mariacher, der den Fisch als Erster wiederholte, entgegnete damals öffentlich, „dass er sich dieser Kritik nicht anschließe, weil die Route so großartig sei…“ (wahrscheinlich hat er bereits damals wesentlich weniger Stellen geclifft als die Erstbegeher). Inzwischen hat auch Heinz seine Meinung revidiert: Zitat: „Wenn ich sehe, welche Entwicklung damit ausgelöst wurde, muß ich den Fisch heute auch kritisch betrachten“. Und die Entwicklung ist folgende: In der Marmolada wird seit der Veröffentlichung der Via Pesce geclifft was das Zeug hält. Erstbegehungen werden gemacht, wo z.B. in der Routenskizze „Eine Stelle mit Cliff“ nachzulesen ist, obwohl Augenzeugen berichten, dass der Vorsteiger in der ganzen entsprechenden Seillänge nicht aus den Cliffschlingen herausgestiegen ist… Überall in den Alpen, speziell in den Dolomiten, werden Neutouren eröffnet, fast alle gebohrt, zur Fortbewegung geclifft – ein einziges Erschließungstheater um jeden Preis. Ich will damit nicht sagen, dass diese Routen Kleingeld sind – jedermann weiß, dass zB. neue Routen in der Marmolada alpin, hart und moralisch anspruchsvoll sind. Große Scheine. Aber es sind Moneten auf Pump, Schuldscheine, die erst eingelöst werden müssen. Und diese Entwicklung zerstört die Wände total. Sie lässt keinen Spielraum mehr für Bessere, die kommen werden und ohne Bolts oder Cliffs das Auslangen finden. Die bar bezahlen. Jene, deren on sight-Niveau im neunten, zehnten Schwierigkeitsgrad liegt, sind heute schon die Angeschmierten. Und ich habe die Vision, dass in nicht allzuferner Zukunft eine Welle von KletterInnen kommen wird, die sich so gewandt und sicher im schwierigsten Fels bewegen werden, dass wir uns im Augenblick keine Vorstellung davon machen können. Als Gino Soldà mit Umberto Conforto 1936 in drei Tagen Schwerstarbeit den berühmten SW-Pfeiler an der Marmolada eröffneten, der jahrzehntelang ausnahmslos jeder Begehung mindestens ein bis zwei Biwaks abverlangte, und der 1950 von Hermann Buhl und Kuno Rainer in zweitägiger Kletterei erstmals im Winter wiederholt wurde, hätte es wohl niemand ernstlich für möglich gehalten, dass Heinz Mariacher und mir im Feber 1982 die zweite Winterbegehung in nur vier Stunden gelingen wird (durchaus auch mit vereisten Seillängen). Und wer hätte 1934 / 35, als am Torre Trieste zwei Routen eröffnet wurden, die damalas zum „Allerletzten im Fels“ zählten, geglaubt, dass Reinhard Schiestl und ich gut 40 Jähre später im winterlichen Frühling in die auch immerhin 700m hohe Wand einsteigen werden, um die >Carlesso / Sandri< im Aufstieg zu bewältigen und die >Cassin / Ratti< abzuklettern? In tutti quanti sechs, sieben Stunden? Wo doch schon allein für die >Carlesso< laut Führer ein Biwak obligatorisch war? Genau so frech werden die KletterInnen in meiner Vision einmal den >Fisch< im Aufstieg und den von Wolfgang Müller und mir 1983 geschaffenen >Weg im Leben zweier Taugenichts< (knapp links vom Fisch) im Abstieg klettern. An einem Tag. Frei. Und womöglich noch bei winterlichen Verhältnissen… Und diese KletterInnen werden sagen: Schade dass uns die verbissenen Eroberungs-Freaks der 80er-, 90er und 2000er-Jahre, die hier mit Bohrhaken und Cliffleitern herumgemurkst haben, in dieser herrlichen Wand keine einzige Linie übrig ließen, die wir heute by fair means erstbegehen könnten. Der Bohrhaken ist außerhalb des Klettergartens bedenklich, weil er Mord am Unmöglichen bedeutet, aber er ist für bestimmte Zwecke diskutabel. Der Cliff zur Fortbewegung aber, wenn er nicht nur zum Anbringen von Sicherungen eingesetzt wird, sondern gecliffte Stellen als fixer Routenabschnitt bestehen bleiben, sodass Wiederholer dazu gezwungen sind, zu rätseln, wann wie weit geclifft wurde, bzw. wo man drauflosklettern kann, ist Rückschritt ins >Techno-Zeitalter der Trittschlingen< und außerdem potentieller MORD AN DER WAHRHEIT. Darshano L. Rieser